Am Wegesrand
Das Blätterdach breitet ein Schattennetz auf den sonnenbeschienenen Waldweg. Ich wähne mich allein auf weiter Flur, bis eine Wegbiegung einen jungen Mann offenbart, der auf einer Anhöhe sitzt und mich traurigen Blickes ansieht. Er trägt einen schwarzen Kapuzenmantel und hat keine Arme.
"Wo sind deine Arme?", frage ich ihn.
"Ich bin ein Mann des Glaubens", antwortet er, "meine Arme habe ich mir abgeschlagen, weil es mein Orden so verlangt."
"Hat Gott dir nicht deine Arme gegeben?", wundere ich mich.
"Oh doch, aber ich habe diesem Geschenk entsagt, um nicht von meiner Hände Arbeit abgelenkt zu werden, sondern mich ganz dem Glauben widmen zu können", entgegnet der Mann.
"Wusste Gott denn nicht, dass Handwerk deinem Glauben schadet", will ich wissen, "sonst wärst du doch schon armlos auf die Welt gekommen?"
Nun scheint der Gottgefällige verärgert, und so warte ich nicht auf die Antwort: "Wo sind deine Glaubensbrüder?", frage ich stattdessen, denn ich sehe weit und breit keine menschliche Behausung.
"Man hat mich verstoßen", klagt der junge Mann, "denn man ist hinter mein schreckliches Geheimnis gekommen."
"Was kann dies sein?", frage ich voller Mitleid.
"Ich bin Linkshänder", sagt der Verstoßene, "und dies gilt uns als große Sünde."
9. November in Maulle au Mer
Handlanger
Toleranz gegenüber Linkshändern hat zugenommen in Maulle au Mer. Weltoffener Großmut gegenüber dieser Veranlagung war nicht immer selbstverständlich: Noch vor wenigen Jahren durften linkshändige Kinder nicht am Schulgottesdienst teilnehmen und wurden gewaltsam umerzogen, damit sie ebenfalls mit der rechten Hand schrieben.
Als offizielle Begründung galt, dass beim linkshändigen Schreiben die Tinte verwischt werde, was aber ein schwaches Argument war angesichts fremder Sprachen wie des Arabischen und Hebräischen, die von rechts nach links geschrieben werden und daher von allen Rechtshändern hätten verschmiert werden müssen.
Die entspanntere Sichtweise in Teilen der Gesellschaft gründet nicht zuletzt auf der Erkenntnis, dass Linkshänderei angeboren ist und keineswegs eine Erziehungs- oder Charakterfrage, wie man früher glaubte.
Dennoch ist es gerade in ländlichen und religiös geprägten Gebieten noch keineswegs selbstverständlich, offen als Linkshänder leben zu können.