Zeitungslektüre
Allmorgendlich blättere ich im Frühstücksraum die Tagszeitungen durch. Die örtliche Presse ist von karger Qualität und meldet auch heute nichts Wesentliches.
"Koks-Türke in Banküberfall verwickelt", lese ich auf Seite 1 der BOULEVARD-Zeitung. Auf Seite 4 stellt sich heraus, dass von einem Urenkel türkischer Einwanderer die Rede ist, der im Brennstoffhandel arbeitet und durch sein beherztes Eingreifen einen Bankraub vereitelte.
Typisch für diese Zeitung, die leider die auflagenstärkste in Maulle au Mer ist. Auf der letzten Seite prangert ein Leitartikel die Verderbnis unserer frühreifen Jugend an - umgeben von Kleinanzeigen des ältesten Gewerbes.
Im Innenteil die Meldung: "Medizinisches Wunder! In einer mehrstündigen Operation ist es einem siamesischen Chirurgen-Team gelungen, zwei von Geburt an getrennte Zwillinge am Kopf zusammenzunähen. Leider überlebte den Eingriff nur einer der Ärzte."
Für Leute, die beim Lesen nicht die Lippen bewegen, gibt es den Maullenser KURIER. Dort lese ich die Forderung, Reiche von der Steuer zu befreien, da diese am wenigsten staatliche Leistungen in Anspruch nähmen. Zugleich wird die Streichung der Theatersubventionen beklagt. Im Editorial verkündet der Chefredakteur, ein gutbetuchter Theaterkenner, seine Kandidatur fürs Stadtparlament.
4. November in Maulle au Mer
Unterschichtenpresse
Über das Übel der BOULEVARD-Zeitung gibt es unter den Gebildeten zwei Standpunkte: Die einen glauben, dass die Bevölkerung durch dieses Blatt zu dummen, ausländerfeindlichen Kleinbürgern erzogen werde und dass die Menschen besser wären, wenn es die Zeitung nicht gäbe.
Die anderen meinen, dass einfache Leute von sich aus dumm, ausländerfeindlich und kleinkariert seien und die Zeitung schlichtweg den Interessen dieser Zielgruppe entspreche und daher sofort durch eine gleichartige ersetzt würde, wenn man sie abschaffte, da es nun einmal ein Bedürfnis nach ihren Inhalten gebe.
Beide Ansichten sind falsch, da sie nicht zwischen Form und Färbung unterscheiden.
Die rechtskonservative Färbung wird den Lesern übergestülpt, da sie den politischen Ambitionen des Verlegers nützt. Vom Zeitungsleser wird sie nicht verlangt, man könnte ihn ebenso gut mit sozialliberalen Ideen von Toleranz, Gleichheit und Gerechtigkeit füttern, er würde sie ebenso unkritisch schlucken.
Die Form aber ist es, die den Leser an die BOULEVARD-Zeitung bindet: Die einfachen kurzen Sätze, die im Kopf nicht wehtun, die schönen bunten Bilder, die man nur angucken und nicht lesen muss, das "du und wir" statt "dies und jenes", die Kraftausdrücke und Zoten statt gefährlicher Fremdwörter, für die man Lexikone besitzen muss.