Bei Gericht
Ich gehe aufs Gericht, um meine Ausgleichsstrafen zu bezahlen. Das ist monatliche Pflicht, denn man büßt damit für jene Vergehen, die einem zwar nicht nachgewiesen werden können, die man aber statisisch betrachtet begangen haben wird.
Einen guten Hunderter kostet es mich diesmal. Der erste Posten besteht aus Urheberrechtsabgaben für Bücher, die ich womöglich kopiert und Lieder, die ich vielleicht mitgeschnitten habe.
Anschließend zahle ich für Ladendiebstähle, die ich hätte begehen können. Rund drei Prozent des Umsatzes gehen dem Einzelhandel dadurch verloren, also büße ich mit dem gleichen Anteil meiner bisherigen Ausgaben.
Für zu schnelles Fahren zahle ich ebenfalls, was mir nicht ganz einleuchten will, da es gar kein Tempolimit gibt. Man erklärt mir aber, das sei auch nicht nötig, weil ohnehin keine Verkehrskontrolle stattfinde, sondern man dies über die Ausgleichsstrafe regle.
Ich lache laut auf und verbrauche mein Kontingent für Beamtenbeleidigungen so schnell, dass ich nachzahlen muss.
Für Schwarzarbeit und Schmuggel werde ich ebenfalls zur Kasse gebeten, da dies typische Touristen-Taten seien, ohne dass jeder Einzelfall ermittelt werden könne. Wenigstens für Steuerhinterziehung muss ich nicht löhnen, da dies nur Einheimische betreffe, aber für anderer Gäste Zechprellerei zahle ich dennoch die Zeche.
Beim Verlassen des Gerichts komme ich am Verhandlungssaal vorbei und lausche eine Weile dem Prozess. Dann wird es Zeit für meine Verabredung mit Marie.
26. September in Maulle au Mer
Plädoyer
"Die Klägerin behauptet, von dem Angeklagten bestohlen worden zu sein. Die Verteidigung wird nun nachzuweisen versuchen, dass die Klägerin ihren Besitz aus freiem Willen dem Angeklagten zum Geschenk gemacht hat.
Zu diesem Zwecke wird die Verteidigung insbesondere den großzügigen und freigiebigen Charakter der Klägerin darstellen, die nach vorliegenden Zeugenaussagen schon mehrfach beim Geben von Almosen beobachtet wurde und für ihren uneigennützigen Lebenswandel bekannt ist, der zu Geldgeschenken an häufig wechselnde Begünstigte führte.
Dies ist Beweisstück A, die Handtasche der Klägerin. Sie merken schon an dem rot lackierten Leder, dass sie wohl kaum als seriöser Aufbewahrungsort für Ersparnisse gilt, die man vor anderen schützen möchte. Im Gegenteil: Diese Tasche lädt geradezu ein, hineinzugreifen und sich zu bedienen!
Sehen Sie, wie ich mit der Tasche durch den Saal schlendere? Dies pralle rote Lederstück schreit doch geradezu danach: Nimm mich! Mein Geld ist leicht zu haben! Man müsste schon ein Armutsgelübde abgelegt haben, um da nicht schwach zu werden, und dieser Wirkung war sich die Klägerin bewusst.
Sie hatte einfach mal wieder Lust darauf, ihr Geld zu verschenken, egal an wen, und der Angeklagte kam ihr da gerade recht. Er war nicht mehr als das willenlose Opfer ihrer Wohltätigkeit, konnte sich kaum dagegen wehren, von ihr beschenkt zu werden.
Und nun steht er als Dieb da, ein unbescholtener Mann, der es doch nun wirklich nicht nötig hat, sich Geld mit Gewalt zu nehmen. Darum bitte ich sie, glauben Sie nicht der Klägerin, sondern sprechen Sie meinen Mandanten frei."